Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Erbe der Schule der Weisheit

32. - 33. Heft · Der Weg zur Vollendung - 1942

Von den zwei Seelen in jedes Brust

Es ist natürlich Unsinn, zu behaupten, dass jeder nur zwei Seelen besäße, und hätte dieses wirklich von Faust gegolten, dann wäre er ein armer Schlucker gewesen. Hier hat (unter anderen) die japanische Psychologie viel tiefer als die europäische geblickt, insofern sie einem höherstehenden Menschen selbstverständlich zwanzig und mehr Seelen zuerkennt und nur ganz rohen und stumpfen bloß zwei bis drei. Wenn gemäß Jungs richtiger Erkenntnis das Ich eigentlich ein Komplex ist, dann ist die Konsequenz schwer abzuweisen, dass man alle zur Konstitution eines Menschen gehörigen (nicht durch Zu- und Unfall verursachten) Komplexe als Teile des Gesamt­organismus anzuerkennen hat, die freilich nicht alle dauerhaft sind, in actu jedoch samt und sonders zu einem gehören. Auch das Ich kann ja überwunden und überwachsen werden, und das, was der normale Mensch unwillkürlich unter seiner Seele versteht, ist eben sein Ich.

In meinen Versenkungen und Selbsterforschungen der letzten Monate fiel mir nun auf, dass die Goethesche Unterscheidung von zwei Seelen genau in einem Sinn — freilich in einem anderen als dem, welchen Goethe meinte — wohl Wesentlicheres feststellt und unterscheidet als andere, an sich ebenso richtige. Es ist der, welchen das Postulat des christlichen Ritters meinte, gemäß welchem der Mann vor den Menschen gewaltig und hochgemut, jedoch demütig vor Gott zu sein habe. Selbstverständlich trifft diese Scheidungsnotwendigkeit und zugleich die scharfe Herausarbeitung beider Teile nur im Falle dessen zu, welcher der Welt gegenüber mächtig ist. Aber welcher Abendländer ist heute nach außen zu nicht in irgendeinem Sinne mächtig? Die wenigsten sind freilich Herren, fast gar keine sind Ritter — aber mit Machtbefugnis ausgestattete Inspektoren und Unteroffiziere (ich brauche diese Begriffe natürlich sinnbildlich) sind sie alle. Man denke nur an den Techniker überhaupt. Dieser ist heute mehr Herr der Erde, als irgendein Ritter es jemals war. Aber freilich ist er heute in seiner überragenden Mehrheit als Sein subaltern. Welche Subalternität die Tatsache erklärt, warum heute so viele nach innerer Überlegenheit Strebende beim metaphysischen Unteroffizier stehen bleiben und sich kaum überhaupt vorstellen können, dass ein Zustand relativer Souveränität erreichbar ist. Viele verstehen ja heute unter Herrentum sogar sich selber als Recht zugestandene menschenunwürdige Behandlung von Schwächeren, wo der wahre Herr gerade der Milde im Sinn des Mittelalters ist, der für die Seele der unter ihm Stehenden verantwortet und seine eigene Würde durch würdiges Verhalten anderen gegenüber beweist,

Doch dieses Letztere nur nebenbei. Worauf ich in dieser kurzen Betrachtung die Aufmerksamkeit lenken möchte, ist dies, wie völlig anders der ehrlich nach persönlicher Vollendung Strebende sich selbst nach innen zu sieht, als er sich nach außen zu äußert, weswegen er in den meisten Fällen von andern ganz anders gesehen wird, als er für sich ist. In meiner Reisetagebuchzeit war ich so ganz und gar auf inneres Erleben eingestellt, dass ich mich ärgerte, wenn jemand in mir den vitalen Herrenmenschen sah, denn als solchen fühlte ich mich damals überhaupt nicht. Seitdem ich nun handelnd und kämpfend in die Welt hinausgetreten bin, muss ich zugeben, dass die anderen von jeher einerseits recht hatten; nämlich auf meine nach außen gekehrte Seite hin. Und in den Jahren, da ich mich einfach aus Zeitmangel fast ganz auf meine Beziehung zur Welt konzentrieren musste, von innen her nur Einfälle und Eingebungen empfangend, welche ich alsbald in Schrift, Rede und Tat überleitete, fühlte ich mich auch selber wesentlich so, wie mich die anderen sahen, und meinte; ein neuer Zustand hätte eben den früheren abgelöst. Dem war nun in Wahrheit niemals so. Ich verkannte mich einfach, so wie ich für mich bin, indem ich mich mit dem Bilde meiner, welches die anderen mir entgegenhielten, identifizierte, ich verlor damit den bewussten Kontakt mit meinen tiefsten Bildekräften. Vor gar nicht langer Zeit lernte ich dies einsehen. Dann aber musste ich das Folgende feststellen: In Wahrheit fühlte ich mich für mich desto schwächer, je stärker ich nach außen zu wirkte. Hier nun handelte es sich nicht um Minderwertigkeitsgefühl, wie dies die Analytiker in solchen Fällen, aus ihrem Vorurteil zugunsten des Ausschlaggebenden der Beziehung zum Mitmenschen heraus summarisch behaupten, sondern um etwas eminent Positives: um eben die Demut, welche der Ritter vor Gott haben sollte. Nur dass diese in ungläubigen Zeiten nicht auf ihren reinsten und auch höchsten Ausdruck bezogen erscheint und darum auch nicht so viel Gutes im Gesamtmenschen wirkt, als sie wirken könnte. Mit den Ausdrücken Minderwertigkeitsgefühl und Minderwertigkeitskomplex wird heute entsetzlicher Unfug getrieben und unabsehbares Unheil angerichtet. Wer fühlt sich im Analytiker-Verstand am minderwertigsten? Der zweifellos Heilige. Und wer am demütigsten? Der auf höchste Weltstellung Berufene und dieser innerlich Gewachsene. Diese zwei Tatsachen sagen alles; ein weiterer Kommentar ist für die Leser, welche ich meine, überflüssig.

Was tatsächlich im Inneren von jedem, mehr oder weniger betont, Mächtigkeit nach außen zu kompensiert, ist Schwächegefühl. Das aller äußeren Willens-Leistung widersprechende Gefühl, letztlich für nichts zu können und mit sich geschehen lassen zu haben. Bei mir liegen da die Dinge folgendermaßen: Versenke ich mich in die Welt der inneren Bilder, so kann ich ohne geistige Entscheidung, die einen aktiven Eingriff bedeutet, nicht unterscheiden, was an Bildern aus mir selber stammt und was von Fremdem außer- oder innerhalb meiner. Alle Bilder sind gleich deutlich und können gleich überwältigend sein. Da ich für mich vorzüglich in der Welt der inneren Bilder lebe und mich von solchen im Wachzustand genau so wie im Traume ständig umgeben fühle, welche inneren Bilder desto lebendiger und deutlicher sind, je weniger ich äußerlich nicht nur tue, sondern auch erlebe, so ergibt sich für mich daraus als Grundstimmung meines Für-mich-Seins und Selbst-Erlebens eine des Stillhaltens und Abwartens im Geiste der Bereitschaft für das, was mir geschieht, wobei mir jedes Machtbewusstsein fehlt. Denn auch die eigenen Einfälle geschehen mir, ich tue sie nicht. Wäre ich nun naiv gläubig und wären meine geistigen Erfassungsmittel dem Psychischen gegenüber so einfach, wie es die eines mittelalterlichen Ritters waren, dann läge nichts mir näher, als mittels eines primitiven Kurzschlusses alles innerliche Geschehen entweder Gott oder Dämonen zuzuschreiben und mich als Rettung Jenem in die Hand zu geben. Ähnlich empfanden ja auch die alten Griechen, insofern sie ihr Dichten und sonstiges Produzieren tatsächlich und aufrichtig dem Wirken der Muse zuschrieben und nicht ihrer eigenen Psyche. Solcher Kurzschluss ist aber der Wachheitsstufe des auf der Höhe seiner Zeit stehenden heutigen Europäers nicht möglich, weil er keine wahre Befriedigung gewähren kann. Dem Europäer lag es, nachdem er seinen Glauben verlor, an extravertierte Einstellung und an naturwissenschaftliche Erklärungen allein gewohnt, wie er war, zunächst am nächsten, eben das, was das Mittelalter positiv als Demut gegenüber den Höheren Mächten bewertete, welche den nicht nur für berechtigt geltenden, sondern geforderten Stolz Menschen gegenüber kompensierte, als Minderwertigkeitsgefühl zu entwerten. Daher die seelische Verhäßlichung der Welt seither, das Zuunterst-zuoberst-Kehren aller Werte usf. Jetzt nun ist höchste Zeit, über diese der Freud-Stufe angehörige Deutung hinauszugelangen. Phänomenologisch und aktuell spielt Minderwertigkeitsgefühl allerdings eine ungeheuere Rolle. Aber dieses rührt in seiner Eigenart viel weniger vom ursprünglichen psychischen Tatbestande her, als von der ererbten oder landläufigen Deutung seiner. Hier hat nicht zwar Sinn, wohl aber Wider-Sinn den Tatbestand geschaffen. Ohne weiteres lassen sich, technisch beurteilt, nicht allein Schuld- und Sündbewusstsein, sondern auch Demut und Hingabe und Ergriffensein auf den Generalnenner des Minderwertigkeitsgefühles bringen. Aber mit solcher Deutung ist nicht allein nichts gewonnen — sehr Vieles und Wertvollstes wird zerstört. Insofern auf dem Gebiet des geistbestimmten Lebens der Sinn den Tatbestand schafft, ist jede Deutung ein schöpferischer Akt, dank welchem die Menschenwelt real anders wird, als sie sonst wäre.

Ich will mich hier nur programmatisch fassen, alle Ausführungen meinen Lesern überlassen — das war ja von jeher der Stil des Wegs zur Vollendung. Darum sei denn der wahre Tatbestand, wie er sich dem erwachten heutigen Europäer darstellt oder darstellen würde, wenn er sich mit genügender Diskrimination in sich versenkte, in einem kurzen implizierenden Satze formuliert: Bei jedem Menschen ist nach innen zu seine Schwäche seine Stärke. Nach innen zu gilt für schlechthin jeden Lao Tse Lehre, dass das Weiche stärker sei als das Harte, und nicht die Nietzschesche Herrenmoraltheorie. Herrenmoral macht, im Gegenteil, nach innen zu blind. Goethe sagte:

Jeder Handelnde ist gewissenlos, nur der Betrachtende hat Gewissen.

Beim Handeln muss man das Meiste seines Wissens abblenden. Denn man kann ja nur einseitig und darum letztlich ungerecht handeln, während jedes Sehen ursprünglich allumfassend ist. Das beste, weil trotz der schon weit vorgeschrittenen Entchristlichung noch durch kein neues und besseres ersetzte Symbol für die normale Beziehung des Menschen zu seiner Innenwelt ist nicht der Adler, sondern das Kreuz. (Vgl. das Kapitel Leiden des Buchs vom persönlichen Leben.) Noch jeder Wissende ist aus seinem sich selber eingestandenen Nicht-Wissen heraus zu diesem geworden. Noch jeder spätere Heilige hat sein Heil gerade aus seinem Sündbewusstsein heraus gefunden. Ja noch Erstaunlicheres ist wahr; Noch jeder Eroberer großen Stils hat aus dem, was man Minderwertigkeitsgefühl zu schimpfen pflegt, seine Leistung vollbracht. Und nicht zwar, um dieses Gefühl zu kompensieren, sondern weil eben aus seiner Schwäche die Stärke des Starken floß. Demut nach innen zu öffnet die Schleusen der nach außen zu strömenden Kräfte. Das ist völlig ausnahmslos so, ganz einerlei, welche äußere Haltung einer aus praktischen Gründen einnehmen mag — der Täter muss ja bei seinem Gebaren in hohem Grade mit dem Unverstand der Massen rechnen. Umgekehrt hat — keine ausschließliche Betonung des Plus-Pols zu dauerhafter Weltgewaltigkeit geführt, sie führt vielmehr unabwendbar zu tatsächlicher, nicht nur vorgestellter Minderwertigkeit. Das sieht man sehr deutlich gerade an Sowjetrussland und Amerika. Alle Beispiele, welche man gegen meine Behauptung aufführen möchte, beweisen deshalb nicht, was sie beweisen sollen, weil die betreffenden Herrenvölker religiös und darum Höheren Mächten gegenüber hingegeben waren. Dies gilt sogar von den Mongolen. Nein, ausschließliche Betonung des Plus-Pols hat noch keinem gefrommt, und nicht nur in dem groben Verstand, dass Hochmut vor dem Fall komme, oder dass, wer sich selbst erhöht, erniedrigt würde — das ist nämlich gar nicht sicher der Fall, meist büßen völlig unschuldige Urenkel für die Hybris ihrer gewalttätigen Vorfahren. Um zu verstehen, worauf es hier ankommt, bedenke man lieber, wie überempfindlich Fürstlichkeiten sind. Gegenüber dem geringsten Distanzmangel gewöhnlicher Sterblicher verlieren sie ihr seelisches Gleichgewicht. Daher die Idee des Majestätsverbrechens.

Zum mittelalterlichen Glauben werden schwerlich viele unter den geistig ernst zu nehmenden Abendländern, die ihn verloren, zurückfinden. Tun sie es, so bedeutet es zumeist nur eine Flucht ins Kollektive oder Infantile. Was aber jeder meditieren sollte, ist die symbolische (und darum in beliebiger konkreter Glaubensform darstellbare) Wahrheit, dass das normale seelische Gleichgewicht als Kompensation der bewussten Macht nach außen zu Demut gegenüber dem innerlich Realen fordert. Wie sehr dies der Fall ist, kann ich an der Erfahrung ermessen, dass meine innere Unsicherheit und Weltangst genau proportional dem Maß und Grade abnimmt, in dem ich mich der über meine Person hinausreichenden innerseelischen Wirklichkeit öffne. Wobei ich notabene noch nicht weiß, was diese wesentlich ist, noch auch wie weit sie reicht, und überhaupt keinen Begriff von ihr bilde.

Und nun kommt die praktische Hauptsache, Es ist grundverfehlt, überhaupt einer Integration der Art zuzustreben, in welcher sich die Polarität Demut-Stolz erledigte, denn gerade sie ist normal. Demut vor dem, wofür bisher die Gottvorstellung stand, und Stolz den Menschen gegenüber ist die richtige Einstellung. Wer sich vor Menschen demütigt, wird damit niedrig schlechthin; Rittergesinnung steht absolut höher als jeder wie immer verstandene Proletkult. Alle Menschenwürde beginnt mit Selbstachtung. Wer sich selbst nicht achtet, kann unmöglich andere achten, gleich wie der, welcher sich selber gar nicht liebt — und derer gibt es viele —, eben darum der Nächstenliebe unfähig ist. Hier hat die entartende christliche Überlieferung viel Unheil angerichtet, welche dann logischerweise mit ebenso falsch verstandenem Herrentumkult zu kompensieren versucht wurde — natürlich ohne den gewünschten und gemeinten Erfolg, da die Gleichung falsch angesetzt war. Kein Mensch hat so viel von Vornehmheit geredet wie Nietzsche, und den von ihm beeinflussten Geschlechtern fehlt gerade sie am meisten. Auch die unter den Teilhabern sonst positiv zu beurteilender Bewegungen, die ein Wieder-lebendig-Werden urchristlicher Gesinnung anstreben und brüderliches Verhalten nur auf der Ebene der Selbsterniedrigung für möglich halten, befinden sich in einem verhängnisvollen Irrtum: genau die gleiche Brüderlichkeit und Offenheit ist unter Rittern möglich. Echte Demut hat nichts mit Verleugnen von Qualitätsunterschieden und gar Bevorzugung niederer Qualität zu tun, wie denn die Gleichheit vor Gott in den großen Zeiten des Christentums nie so verstanden wurde, als seien darum auch alle Menschen voreinander gleich.

Hier komme ich denn zum Abschluss zur Vorstellung der zwei Seelen in des Menschen Brust zurück. Es ist wirklich so, und nicht nur dies: es soll so sein, dass sich der Mensch für sich ganz anders fühlt und schaut, als er sich anderen gegenüber als Handelnder aufrichtig gibt. Intimes Selbstgefühl und Wirkung auf andere können nicht allein nicht, sie dürfen gar nicht zusammenfallen. Wo letzteres der Fall scheint, handelt es sich um Lüge oder Selbstbelügung. Das Für-sich-Sein jedes ist für jeden anderen, außer für Gott, ursprünglich Geheimnis. Umgekehrt kann keiner ursprünglich und unmittelbar wissen, wie er anderen erscheint. Das ist zunächst der anderen Geheimnis. Hier gilt von jedem ursprünglich eben dies, wie von Jesus, der nach einer vollzogenen Heilung gerade nur merkte, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war. — Aus diesen allgemeinen Einsichten folgt noch etwas für den Alltag Praktisches: wer das Vorhergehende ganz verstanden hat, wird nicht mehr den Anspruch stellen, dass ihn andere wirklich verstehen sollen, auch an Geliebte und Liebende nicht. Dieser Anspruch ist nämlich einer der häufigsten Stifter von Herzeleid.

Hermann Keyserling
Das Erbe der Schule der Weisheit · 1981
Der Weg zur Vollendung
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME